- Kiewer Reich \(Rus\): Am »Weg von den Warägern zu den Griechen«
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Der NormannismusstreitFolgt man der altrussischen Nestorchronik, dann ist am Beginn der russischen Geschichte von einer normannischen Staatsgründung auszugehen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als deutschstämmige Historiker diese Textzeugnisse in die wissenschaftliche Diskussion einführten, wird ein hartnäckiger Streit um die historische Glaubwürdigkeit des Chronikberichtes ausgetragen. Nationale Vorurteile und Prestigedenken haben diesen Diskurs erheblich belastet.Nach dem heutigen Kenntnisstand dürfte ein vermittelnder Standpunkt zwischen den extremen normannistischen und antinormannistischen Positionen wohl am ehesten den schwer fassbaren Vorgängen in der ostslawischen Frühzeit entsprechen. Unbestreitbar ist die frühe Anwesenheit von Nordleuten in der Wolga- und Dnjeprregion. Sie trafen aber offensichtlich unter den einheimischen baltischen, finno-ugrischen und slawischen Bewohnern auf eine schon entwickeltere Stammesgesellschaft, der überregionale politische Zusammenschlüsse nicht mehr fremd waren. Nach den neuesten archäologischen Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass das Siedlungsareal der Ostslawen sich spätestens im 7. Jahrhundert schon östlich über den mittleren Dnjepr hinaus erstreckt hat.Waräger und SlawenWarägische Kriegerkaufleute drangen nach Ausweis arabischer Münzfunde seit der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts n. Chr. in das Flusssystem der oberen Wolga ein. Sie dürften um 800 erstmals auch über die Düna bzw. vom Ladogasee aus über Schleppstellen den oberen Dnjepr erreicht haben und dnjeprabwärts bis ins Schwarze Meer gelangt sein. Abgesandte der Rus (in griechischen Quellen »Rhos«) baten 839 in der Kaiserpfalz Ludwigs des Frommen in Ingelheim um sicheres Geleit zurück in ihre Heimat. Sie wurden bei genaueren Nachforschungen als Schweden identifiziert. Noch heute bezeichnen die Finnen ihre schwedischen Nachbarn als Bewohner von »Ruotsi«, während für Russland der alte Wendenname »Venäjä« üblich ist. Am 23. Juni 860 griffen diese »Russen« mit ihren wendigen Einbooten Konstantinopel an. Das »Russenkapitel« des byzantinischen Staatshandbuches, das Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos Mitte des 10. Jahrhunderts für den Thronfolger zusammenstellen ließ, enthält detaillierte Auskünfte über die Dnjeprfürsten und ihren Handel mit Konstantinopel. Die doppelsprachigen »russischen« (das heißt nordischen) und slawischen Benennungen der gefährlichen Dnjepr-Stromschnellen, die auf dem Weg ins Schwarze Meer zu überwinden waren, belegen die führende Rolle der Waräger bei der Organisation dieses Handels. Sie lässt sich auch aus den durchweg nordischen Namen der Fürsten und ihrer Bevollmächtigten erkennen, die in den Griechenverträgen der Nestorchronik von 911 und 944 aufgeführt sind.»Staatsgründung« und ChristianisierungDer Berufungslegende nach sollen die Waräger als Friedensstifter ins Land gerufen worden sein. Naheliegender ist wohl anzunehmen, dass sie sich gewaltsam Zutritt verschafften und einheimische Burgherren verdrängten. Die drei Brüder Rurik, Truwor und Sineus sollen sich 862 mit ihren Sippen in Altladoga bzw. in Nowgorod, am Weißen See und in Isborsk niedergelassen haben. Nach dem Tode Ruriks (879) war Oleg (skandinavisch Helgi) im Jahre 882 mit seinem Gefolge nach Süden aufgebrochen. Er beendete die Herrschaft der Warägerfürsten Askold und Dir in Kiew und führte den nördlichen und südlichen Herrschaftsbereich warägischer Fürsten in einer Hand zusammen. In den folgenden Jahren zwang er einen Großteil der umliegenden ostslawischen Stämme in abgabenpflichtige Abhängigkeit zum Kiewer Fürstensitz. Nowgorod ließ er als Nebenland von einem Statthalter verwalten.Die Nordleute trugen mit ihren weit gespannten Handelsinteressen in die Lebenswelt der sich selbst versorgenden finnougrischen und slawischen Waldbauern, die in verstreuten Siedlungsinseln inmitten eines schwer zugänglichen Waldareals lebten, großräumigere politische Ordnungsvorstellungen hinein. Ihr Ziel war es, den lukrativen Handelsweg von der Ostsee zum Schwarzen Meer, »von den Warägern zu den Griechen«, unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie riskierten den militärischen Konflikt mit den turkstämmigen Reiternomaden, die die südrussische Steppenzone beherrschten. Fürst Igor (skandinavisch Ingvar) hatte sich schon 915 eines Einfalls der Petschenegen zu erwehren. Der Gegensatz von Wald und Steppe, von sesshafter slawischer Ackerbauernkultur und nomadischer Lebensweise der Steppenvölker, hat seither den weiteren Verlauf der altrussischen Geschichte maßgeblich geprägt. Er wurde sehr bald schon durch eine sich an der Steppengrenze entwickelnde Konfrontation von Christentum und Islam noch verstärkt. Die Bewohner des Reichszentrums Kiew mussten sich daran gewöhnen, mit der Angst vor einer existenzbedrohenden Gefährdung aus der nahe gelegenen Waldsteppe zu leben. 965 warf Fürst Swjatoslaw in einem voreiligen kriegerischen Unternehmen das Chasarenreich nieder, das jahrzehntelang mit Unterstützung aus Byzanz eine Vorfeldsicherung wahrgenommen hatte. Er öffnete damit ungewollt den nachdrängenden Steppenvölkern den Weg nach Westen.Beiderseitige Handelsinteressen hatten den Warägerfürsten geholfen, sich mit den byzantinischen Kaisern zu arrangieren. Warägische Waffenhilfe war in Notzeiten am Kaiserhof in Konstantinopel hochwillkommen. Fürst Swjatoslaw beteiligte sich seit 967 bereitwillig an der Niederringung des bulgarischen Widerstandes und träumte schon von einer Verlegung seiner Residenz an die Donau. Kaiser Johannes I. Tzimiskes musste sich des ungebetenen Gastes mit Gewalt entledigen. Im Friedensvertrag von 971 zwang er ihn zum Abzug und zum Verzicht auf alle Eroberungen.Die Fahrten an den Bosporus brachten zwangsläufig die nordischen »Barbaren« mit der Kulturwelt des Mittelmeerraums in Berührung. Sie lernten die Annehmlichkeiten einer Großstadt und den Luxus des höfischen Lebens kennen. Für die begehrten Pelze und Waldprodukte, die sie als Tribut von ihren Untertanen eingezogen hatten, tauschten sie kostbare südländische Stoffe, exotische Früchte und Weine sowie kunsthandwerkliche Erzeugnisse ein. Fürstin Olga, die Witwe Igors, war während ihrer Regentschaft (945—962) für den unmündigen Sohn nicht abgeneigt, für ihre Person schon weiter gehende Konsequenzen zu ziehen. Sie entschloss sich — sehr zum Unwillen ihres Sohnes und Nachfolgers, des heidnischen Haudegens Swjatoslaw (962—972), und seiner Gefolgschaft —, den christlichen Glauben anzunehmen. Auch von König Otto erbat sie 959 Missionare. Der Mönch des Trierer Maximinklosters Adalbert, der spätere Erzbischof von Magdeburg, begab sich 961 auf die Reise nach Kiew, musste allerdings unverrichteter Dinge wieder zurückkehren.Die Taufe Russlands war das Werk Wladimirs I., des Enkels Olgas. In seine 35-jährige Herrschaft fällt die erste Glanzperiode des Kiewer Reiches. 988 trat er im Einvernehmen mit dem byzantinischen Kaiser Basileios II., dessen Schwester Anna er ehelichte, zum Christentum über und zwang anschließend die Kiewer Bevölkerung zur Massentaufe. Von griechischen Bischöfen (Metropoliten) und Missionaren ist in der Folgezeit die byzantinisch-christliche Schriftkultur nach Kiew gebracht worden, griechische Architekten und Künstler sorgten für den Bau und die Ausgestaltung von Kirchen und Klöstern in den Fürstenresidenzen der Dnjeprregion. Zum geistigen Zentrum der Klosterkultur entwickelte sich die Mönchsgemeinschaft des Kiewer Höhlenklosters. Sie wurde in der Tradition der Athosklöster 1051 gegründet.Innerdynastische KonflikteDer Tod Wladimirs I. 1015 beschwor einen mörderischen Bruderkampf unter den Söhnen herauf. Swjatopolk der Verfluchte bemächtigte sich Kiews und ließ die Fürstensöhne Boris und Gleb noch im gleichen Jahr umbringen. Nach dem Tode des Brudermörders 1019 musste sich Jaroslaw die Herrschaft bis 1036 mit seinem Bruder Mstislaw teilen, der die Gebiete östlich des Dnjepr für sich beanspruchte. Als Alleinherrscher hat Jaroslaw der Weise danach der Rurikidendynastie zu einem europaweiten Ansehen verholfen. Durch eine geschickte Heiratspolitik knüpfte er verwandtschaftliche Beziehungen zu den führenden Herrscherhäusern in Europa. Seine Kiewer Residenz ließ er nach dem Vorbild Konstantinopels prunkvoll ausbauen, 1037 legte er den Grundstein für die Sophienkathedrale.Um künftige Thronstreitigkeiten zu vermeiden, verpflichtete Jaroslaw bei seinem Tode 1054 seine Söhne auf eine Erbfolgeregelung, die den Ältesten begünstigte (Senioratsprinzip). Obwohl er selbst noch jedem der Söhne seinen Herrschaftssitz zuwies, blieben in den nachfolgenden Generationen innerdynastische Konflikte nicht aus. Typische Onkel-Neffen-Fehden stellten die Einheit des Reiches immer mehr infrage. Die Generation der Enkel sah sich daher auf dem Fürstentreffen von Ljubetsch 1097 veranlasst, die Konsequenzen aus den bitteren Erfahrungen der voraufgegangenen Bürgerkriege zu ziehen und dem Prinzip des Vatererbes (russisch wottschina) künftig den Vorrang einzuräumen. Um die blutigen innerdynastischen Kämpfe zu beenden, war man bereit, eine dauerhafte Absonderung teilfürstlicher Herrschaftsbereiche hinzunehmen. Die Kiewer Großfürstenwürde verlor seither ihre Bedeutung als Ehrenvorrang und der Amtsträger büßte seine ausgleichende Funktion als Sippenältester ein. Nur noch vorübergehend konnte eine herausragende Herrscherpersönlichkeit wie Wladimir Monomach (1113—25) den Gedanken an die Reichseinheit wach halten.Zentrum und PeripherieDie Zukunft gehörte aber den in den Regionen verwurzelten Fürstenherrschaften. Ihre wirtschaftlichen Ressourcen beruhten nicht mehr wie in früheren Zeiten vornehmlich auf Kriegsbeute und den Gewinnen aus grenzüberschreitenden Handelsgeschäften. Landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe wurden immer mehr zu einer wichtigen Einnahmequelle. Das Profil der Oberschicht passte sich dieser Entwicklung an. Der Bojare als adliger Landbesitzer löste den Haudegen der früheren kriegerischen Gefolgschaft im engsten Beraterkreis der Fürsten ab. Gefahr für das friedliche Zusammenleben drohte von der rücksichtslosen Hausmachtpolitik ehrgeiziger Fürsten. In kritischen Situationen beanspruchten seit dem 11. Jahrhundert daher zunehmend auch die betroffenen Untertanen ein Mitspracherecht. Sie trafen sich spontan auf städtischen Volksversammlungen (russisch wetsche), so erstmals erwähnt 997 in Belgorod, und meldeten bei anstehenden wichtigen Entscheidungen ihre Wünsche an. Gelegentlich setzten sie bei der Fürstenwahl ihren Wunschkandidaten durch. Das Kiewer Reich zerfiel in eine Vielzahl kleinerer Teilfürstentümer und löste sich in die Einzelinteressen der verschiedenen rurikidischen Seitenlinien auf.Der Machtkampf um die innerrussische Vorherrschaft spielte sich hauptsächlich unter den Nachkommen Wladimir Monomachs und seines Sohnes Mstislaw ab. Das Schicksal Kiews entschied sich im Machtpoker zwischen den aufstrebenden Fürstensitzen in den Randgebieten Wolhynien, Smolensk und Wladimir-Susdal. In Smolensk nutzten die Nachkommen des 1167 verstorbenen Monomach-Enkels Rostislaw die günstige geographische Lage am Kreuzungspunkt der binnenrussischen Flussverbindungen zu Gewinn bringenden Handelsaktivitäten, die über Riga bis nach Lübeck, Dortmund und Bremen reichten. Den südwestrussischen Territorien boten fruchtbare Ackerböden und rege Handelskontakte günstige Voraussetzungen für wirtschaftlichen Wohlstand und Eigenständigkeit. Die Nähe Ungarns und Polens drohte aber auch wiederholt die innere Entwicklung zu gefährden. Die Fürsten hatten zudem gegen eine starke Bojarenopposition anzukämpfen. Eine innere Konsolidierung erreichte erst Roman Mstislawitsch im Jahre 1199 mit der Vereinigung der Fürstentümer von Wolhynien und Galitsch. Sie brachte ihm auch vorübergehend 1203 den großfürstlichen Thron in Kiew ein.Auf längere Sicht arbeitete die Zeit für die Herrscher im entfernten Rostower Land, das Wladimir Monomach 1125 seinem jüngsten Sohn Jurij Dolgorukij hinterlassen hatte. Die geschützte Lage »hinter den Wäldern« fernab von den Einfallswegen der Steppenvölker erleichterte einen kontinuierlichen Landesausbau. Jurij machte sich als Städtegründer einen Namen. Er beteiligte sich erfolgreich an den Auseinandersetzungen um die Beherrschung Kiews, in dessen Mauern er 1149 und 1155 als Sieger einzog. Unter seinen Söhnen und Nachfolgern Andrej Bogoljubskij und Wsewolod III. spielte das Fürstentum Wladimir-Susdal seinen Machtvorsprung vor den Mitkonkurrenten in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts immer rücksichtsloser aus und erhob Anspruch auf das Kiewer Erbe.Die Schwerpunktverlagerung der russischen Geschichte von der Dnjeprregion in das Zwischenstromland zwischen oberer Wolga und Oka hatte weit reichende Folgen. Der ehedem von finnougrischen Stämmen bewohnte nordostrussische Kolonialboden war erst seit der Jahrtausendwende von slawischen Siedlergruppen erschlossen worden. Die Herausbildung autokratischer Herrschaftsformen wurde noch kaum durch gewachsene politische Strukturen und durch eine bodenständige Adelsopposition behindert. Dieses soziale und politische Umfeld sollte den Moskauer Fürsten den späteren Machtaufstieg erheblich erleichtern.Russland und AsienDer Mongolensturm von 1238 bis 1240 unterbrach vorerst die in Gang gekommene machtpolitische Umstrukturierung unter den russischen Fürstentümern. Die enormen Kriegsschäden und die erzwungenen Abgaben an die neuen tatarischen Herren schwächten die Wirtschaftskraft des Landes. Russland war zudem bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts weitgehend von Westeuropa abgeschnitten. Im jahrhundertelangen wechselvollen Kampf zwischen Wald und Steppe hatten die Reiternomaden einen wichtigen Etappensieg errungen. Nur die nordwestrussische Handelsmetropole Nowgorod war außerhalb der Reichweite der tatarischen Truppen geblieben und vor Kriegszerstörungen bewahrt worden, musste sich aber ebenfalls an den Tributzahlungen beteiligen.Prof. Dr. Edgar HöschWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Mongolensturm und Goldene Horde: Blutige Morgenröte über RusslandDie altrussische Nestorchronik, herausgegeben von Reinhold Trautmann. Aus dem Russischen. Leipzig 1931.Cyrillo-methodiana. Zur Frühgeschichte des Christentums bei den Slaven 863-1963, herausgegeben von Manfred Hellmann u. a. Köln u. a. 1964.Donnert, Erich: Altrussisches Kulturlexikon. Leipzig 21988.Donnert, Erich: Das Kiewer Rußland. Kultur und Geistesleben vom 9. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert. Leipzig u. a. 1983.Handbuch der Geschichte Rußlands, herausgegeben von Manfred Hellmann u. a. Band 1: Bis 1613. Von der Kiever Reichsbildung bis zum Moskauer Zartum. 2 Teile. Stuttgart 1981-89.Hösch, Edgar / Grabmüller, Hans-Jürgen: Daten der russischen Geschichte. Von den Anfängen bis 1917. München 1981.Hösch, Edgar: Geschichte Rußlands. Von den Anfängen des Kiever Reiches bis zum Zerfall des Sowjetimperiums. Stuttgart u. a. 1996.Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution, herausgegeben von Hans-Joachim Torke. München 1985.The modern encyclopedia of Russian and Soviet history, herausgegeben von Joseph L. Wieczynski. Auf mehrere Bände berechnet. Gulf Breeze, Fla., 1976 ff. Ab Band 56 unter dem Titel: The modern encyclopedia of Russian, Soviet and Eurasian history.Müller, Ludolf: Die Taufe Rußlands. Die Frühgeschichte des russischen Christentums bis zum Jahre 988. München 1987.Rauchspur der Tauben. Radziwi-Chronik, aus dem Altrussischen übertragen und herausgegeben von Helmut Graßhoff u. a. Leipzig u. a. 1986.Senyk, Sophia: A history of the church in Ukraine, Band 1: To the end of the thirteenth century. Rom 1993.Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 61997.
Universal-Lexikon. 2012.